Wollte man den gängigen Mediennarrativen Glauben schenken, so stellt sich die Welt als eine Bühne dar, auf der der ewige Kampf von Gut gegen Böse ausgetragen wird. Selten wird bezweifelt, dass „wir“ – also die westlichen Industrienationen – die Guten sind, die sich einen Showdown mit den autokratische Schurkenstaaten dieser Welt liefern. Was wenige wahrhaben wollen ist, dass die Mehrzahl der Länder dieser Welt sich diesem Blickwinkel nicht anschließen mögen. Jenseits medial stimulierter Börsenhypes – nämlich im Bereich der Realwirtschaft – zeichnet sich bereits die Zukunft einer multipolaren Welt ab, in der die USA nicht mehr die dominante Rolle einnehmen. Es macht deshalb Sinn, sich mit Anlageperspektiven in einer multipolaren Welt zu beschäftigen.
Rasanter Wandel
Die Handelsströme der Welt haben sich in den vergangenen rund zwei Jahrzehnten dramatisch verschoben. Damals dominierten die USA noch die globale Wertschöpfung und ihr Beitrag war dreimal größer als der Chinas. Heute ist ihr Anteil in Kaufkraftparität bemessen auf etwa 15 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung gesunken. China ist bereits deutlich an den USA vorbeigezogen und ist heute der wichtigste Handelspartner für die weit überwiegende Mehrheit der Länder des globalen Südens. Mit einem Wachstum von über 8 Prozent in 2023 (IWF-Prognose für 2024: 7 Prozent) befindet sich auch Indien auf der Überholspur. Selbst Russland konnte – trotz unzähliger Sanktionspakete – über 3 Prozent erreichen: deutlich mehr als die USA.
Schaut man sich die Börsen an, so scheint die Realität dagegen in einer unipolaren Welt stecken geblieben. Wenn man der Börsenkapitalisierung von Aktienunternehmen folgt, dominieren US-amerikanische Unternehmen immer noch mit etwa 70 Prozent den MSCI World (MSCI All Country World Index: 64 Prozent). Danach kommen mit großem Abstand die Anteile japanischer und europäischer Unternehmen. Insgesamt sind 80 Prozent des Börsenkapitals in westlichen Industrieländern (inkl. Japan) angelegt.
Wer sich noch daran erinnert, dass in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts Japan den Weltaktienindex dominierte, kann sich vorstellen, dass das US-amerikanische Zeitalter an der Börse ebenfalls ein Verfallsdatum hat. Wer daran glaubt, dass US-Unternehmen angeführt von wenigen IT-Platzhirschen auf Dauer rund zwei Drittel aller Unternehmensgewinne der Welt einfahren werden, muss jetzt nicht weiter lesen. Alle anderen sollten sich über die Anlageperspektiven der Zukunft Gedanken machen.
Protektionismus beschleunigt das Ende der US-Vorherrschaft
Die massive und wirtschaftlich extrem destruktive Sanktionspolitik, der protektionistische Ausbau von Handelsbeschränkungen und Strafzöllen sollten eigentlich die Konkurrenz in Schach halten. Stattdessen führen sie noch zu einer Beschleunigung des Endes westlicher Vorherrschaft unter US-amerikanischer Führung. Etliche Schwellenländer haben ihre Chance erkannt, aus dem neuen Ost-West-Konflikt Kapital zu schlagen.
In diesem Zusammenhang von Deglobalisierung zu sprechen wäre irreführend, denn der weltweite Handel nimmt weiter zu. Was tatsächlich stattfindet, ist eine Multipolarisierung des Welthandels. Das mediale Starren auf China und Russland blendet aus, dass auch Indien zu einem Wachstumsspurt anlegt, der aktuell selbst China träge aussehen lässt. Dem sehr heterogenen BRICS-Bündnis haben sich weitere dynamische Volkswirtschaften angeschlossen oder streben eine Mitgliedschaft an. Viele haben die Jahrzehnte andauernde Dollar-Schuldenfalle satt und vertrauen bei der Entwicklung ihrer Infrastruktur nun eher China. Das Reich der Mitte hat auch in sogenannten grünen Technologiefeldern mittlerweile die Nase vorn. Es muss sich hinsichtlich Forschung und Entwicklung nicht mehr hinter den USA und Europa verstecken. Die Volksrepublik hat sich zum Hightech-Standort entwickelt und den Westen auch bei Patentanmeldungen mittlerweile abgehängt.
Die immensen Handelsüberschüsse Chinas werden also schon längst nicht mehr mit billigen Plastikwaren oder Halbfertigprodukten erwirtschaftet. Sogar im Bereich der Automobilexporte hat China im vergangenen Jahr Japan und Deutschland als Platzhirsche verdrängt. Schotten sich die USA und Europa mit Strafzöllen ab, so wird China den Rest der Welt umso mehr mit preisgünstigen Angeboten überschwemmen. Am deutlichsten zeigt sich die chinesische Export-Übermacht im Bereich Solarzellen, wo sie sie mit Abstand den Weltmarkt dominieren. Sieben der zehn größten Solarunternehmen haben dort ihren Sitz. Rund 80 Prozent aller Komponenten für Solarmodule weltweit werden laut Internationaler Energieagentur (IEA) heute in China produziert. Westliche Produzenten haben gegen diese Vormacht keine Chance, zumal die Kapazitäten dort weiter ausgebaut werden.
Der steigende Protektionismus des Westens ist kontraproduktiv: Einerseits werden durch Strafzölle die Güter im Westen teurer und die Inflation weiter angeheizt. Andererseits verliert die eigene Industrie hinter den Zollschranken noch mehr an globaler Wettbewerbsfähigkeit und Marktanteilen. Der Anteil der westlichen Industriestaaten an der Weltwirtschaft ist gemessen an der Kaufkraftparität auf etwa 30 Prozent gefallen und wird weiter abnehmen.
Welche Anlageperspektiven folgen daraus?
Anlageperspektiven in der multipolaren Welt müssen zunächst die beschriebene Entwicklungsdynamik anerkennen. Diese ist mit der Benennung von zwei großen Handelsblöcken um die Pole USA und China keineswegs erschöpfend beschrieben. Die rasch wachsende Mitgliederzahl der BRICS-Staaten bietet sich zwar für die Entwicklung eines alternativen Währungs- und Handelssystems an. Und politisch driften die genannten Pole bereits heute immer weiter auseinander. Dazwischen versuchen jedoch eine ganze Reihe von Ländern durch kooperative Beziehungen in beide Richtungen eigene Entwicklungschancen zu nutzen. Insbesondere Indien wird sich schon aufgrund der Größe nicht einfach vereinnahmen lassen. Der Schwerpunkt des Welthandels verschiebt sich jedenfalls immer mehr von den weitgehend gesättigten Wirtschaftsregionen zu neuen Finanzzentren im Süden. Und nein: KI wird diese Entwicklung nicht umkehren sondern eher noch beschleunigen.
Daraus ergeben sich folgende Schlussfolgerungen: Die auch von Verbraucherschützern empfohlene Aufteilung des Anlagevermögens entsprechend der aktuellen Marktkapitalisierung der gängigen Indices macht in der multipolaren Welt immer weniger Sinn. Sie ist sogar gefährlich. Eine breitere Diversifikation der Anlagen in Bezug auf Anlageregionen ist unausweichlich. Hier scheint Europa geopolitisch besonders benachteiligt. Dabei darf allerdings das immense Handelsbilanzdefizit und der Schuldenexzess der USA nicht ausgeblendet werden. US-Anleihen erscheinen zwar aufgrund höherer Zinsen attraktiver – die höheren Nominalzinsen spiegeln jedoch auch das höhere Ausfallrisiko in einem schon heute politisch zerrissenen Land wider. Die scheinbar benachteiligte europäische Kleinstaaterei“ könnte sich durchaus für resilienter erweisen als bislang vermutet. Das US-Zinsniveau saugt zwar vordergründig Liquidität ab – dies aber um den Preis der Beschleunigung der Verschuldung bei gleichzeitig desaströser Handelsbilanz. Die Vorhersagen der sogenannten Dollar-Milkshake-Theorie von Brent Johnson haben sich jedenfalls im Wesentlichen bislang nicht bestätigt. Selbst die US Finanzministerin wies jüngst jedenfalls auf die Gefahr der Entdollarisierung hin.
Diversifikation im Anleihebereich
Jedenfalls ist aufgrund der Schuldenproblematik eine breitere Diversifikation nach Ländern und Währungen im Anleihebereich fast noch wichtiger als bei Aktien. Festverzinsliche Anlagen sind sehr verwundbar, wenn die Inflation wegen steigender Staatsausgaben, Aufrüstung und Handelsbarrieren wieder anzieht. Dass Anleihen aus Schwellenländern besser performen als „sichere Industrieländer“ ist für viele Investoren gewöhnungsbedürftig. Ihre stärkere Gewichtung macht aber in der entstehenden multipolaren Welt sehr viel Sinn. Im Fall einer weiteren militärischen Eskalation umso mehr. Nicht nur Anleihen von Kriegsverlierern waren historisch eine Katastrophe auch die Papiere der vermeintlichen Gewinner können Opfer einer durch Rüstungsausgaben induzierten Inflation werden. Staatsanleihen von „blockfreien Staaten“ dürften in einem solchen Extremumfeld eindeutig am besten abschneiden.
China und Russland fallen wegen beschränkter Marktzugänge und dem zugespitzten Antagonismus – jedenfalls kurzfristig – als Anlagealternativen aus. Sie werden auch oft aus „ethischen Gründen“ abgelehnt. Menschenrechts- und Freiheitsdebatten werden allerdings nicht selten politisch und propagandistisch missbraucht. Die Überheblichkeit westlicher Doppelmoral in Bezug auf militärische Interventionen bis hin zu regelrechtem Völkermord und massiven Eingriffen in Freiheitsrechte lässt entsprechende Gewissheiten zunehmend fragwürdig erscheinen.
Dennoch macht es aus pragmatischen Gründen Sinn, den Blick zunächst auf möglichst neutrale Staaten zu richten, denen es gelingt, mit allen Seiten im Geschäft zu bleiben. Länder wie Mexiko, Brasilien und Uruguay, Indien, Türkei, Südafrika, Singapur, Malaysia oder Indonesien. Dabei haben sich insbesondere Staatsanleihen aus diesen Ländern in den letzten beiden Jahren als solide erwiesen. Im Risiko-Rendite-Verhältnis hatten sie gegenüber Aktien von Firmen aus diesen Ländern sogar deutliche Vorteile (Siehe Grafik: DPAM L Bonds Emerging Markets Sustainable im Vergleich mit All Country World Index und EM Aktienindex). Mittelfristig sollten aber auch letztere sowie westliche Unternehmen, die in diesen Märkten stark sind einen guten Beitrag in einem „multipolaren Portfolio“ leisten.
Ein differenzierter Blick auf Aktien und Edelmetalle
Aktien der bisher dominierenden IT-Unternehmen, die einen Großteil ihrer Güter in Taiwan und China herstellen lassen, könnten dagegen anfällig für politische Schocks sein. Ein entsprechendes Übergewicht aus den gängigen Welt-Aktien-Indices sollte deshalb abgebaut werden. Firmen, welche vom Boom in Emerging Markets profitieren und mit China konkurrenzfähig sind, bleiben dagegen weiterhin attraktiv. Auch sogenannte hidden Champions aus der zweiten Reihe – die zuletzt litten – könnten wieder interessant werden. Es wäre jedenfalls verkehrt, schematisch einfach von Industrieunternehmen auf Konsumgüter umzusatteln. Konsumgüter sind anfällig für globale Wirtschaftskrisen und ermöglichen auch weit weniger Produktivitätsfortschritte.
Die gehypte Biotech-Branche hat in mancher Hinsicht enttäuscht. Den hochgeschraubten Erwartungen beispielsweise an die mRNA-Technologie stehen gesundheitliche, politische und wirtschaftliche Risiken gegenüber, die immer deutlicher zutage treten. Die Impfchampions aus 2021 haben im vergangenen Jahr 50 Prozent und mehr ihres Wertes eingebüßt. Auf die zweifelhafte Präsenz von BioNTech im Nachhaltigkeitsfonds Ökovision hatten wir bereits vor zwei Jahren hingewiesen.
Auch Minenaktien halten wir wegen der in Krisenzeiten populärer werdenden Verstaatlichungen strategischer Ressourcen für eher riskant. Edelmetalle bleiben dagegen als Beimischung interessant – insbesondere vor dem Hintergrund ruinöser Handelskriege oder auch eskalierender militärischer Auseinandersetzungen. Wie Folker Hellmeyer in seinem aktuellen Report anmerkt: „Gold profitiert, weil die Stabilität des institutionellen Rahmens der Welt immer brüchiger wird.“
Vor dem Hintergrund eines zunehmend labilen Finanzsystems bleiben derivative Anlageinstrumente auf Edelmetalle für uns jedoch tabu. Rohstoffspekulationen insbesondere im Nahrungsmittelsektor sowieso. Anlageperspektiven in einem multipolaren Welt lassen Nachhaltigkeitsthemen nicht hinter sich. Sie erweitern nur den Wahrnehmungshorizont.